Wie wir Leben wollen - erste Ausgabe

»Streitet euch "Alexei Nawalny hat sich selbst mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet”, das behauptet meine russische Verwandtschaft - ich widerspreche. Wir alle kennen Leute, die an Verschwörungsmythen glauben. Doch die Augen zu verdrehen und mit dem Kopf schütteln wird sie nicht ändern. Wir müssen die Menschen und ihre Aussagen ernst nehmen, mit ihnen sprechen und streiten. Wer diesem Streit aus dem Weg geht, gefährdet die Demokratie. Ein Kommentar von Vassili Golod Zweifeln ist gut. Doch ausgerechnet im Zweifel liegt auch der Ursprung einer jeden Verschwörung. Wenn Menschen etwas nicht verstehen, brauchen sie eine Erklärung. Früher haben sie diese Erklärung vor allem in der Religion gesucht, in Gott. Heute suchen viele bei Google. Und dort finden sie noch immer, was schon vor Jahrhunderten gefährlich und falsch war: antisemitische Verschwörungsmythen. Im Mittelalter wurde das Gerücht verbreitet, dass Jüd*innen die Brunnen vergiften würden. Bis heute halten sich hartnäckig verschiedenste Mythen über das sogenannte “Finanzjudentum”. Die Ermordung von Millionen von Jüd*innen im Nationalsozialismus basierte auch auf diesen Erzählungen. Deshalb gilt für alle, die im Alltag antisemitische Aussagen mitbekommen: zeigt Haltung. Das gilt bei allen Formen von Diskriminierung. Denn Verschwörungsideologien sind gerade deshalb so gefährlich, weil sie oft gegen Minderheiten gerichtet sind - und den Mehrheiten egal sein könnten, aber nicht sollten. “Wir” gegen “die” Umso wichtiger ist es, das System der Verschwörungsideologien zu durchschauen. Sie entstehen oft in Zeiten, die von den Menschen als gesellschaftliche Krisen wahrgenommen werden, also in gefühlten Krisen. Aus Angst, Unsicherheit und Kontrollverlust entsteht der Wunsch nach Erklärungen und das Verlangen nach Schuldigen. Einer kleinen Gruppe von Außenseiter*innen, die man ohne Weiteres zu Sündenböcken machen kann. Oder der “mächtigen Elite”, die über den Dingen steht. Und denen schiebt man dann alles unter. Aktuelles Beispiel: Corona. Das Virus lässt sich nicht greifen. Wer nicht unmittelbar davon betroffen ist, kann es nicht spüren. Spürbar sind dagegen die Einschränkungen, die Ungewissheit und die wirtschaftlichen Folgen. Auf der ganzen Welt. Abstand halten, Maske tragen, Hände waschen - das ist für viele lästig. Es ist einfacher, die abstrakte Bedrohung zu leugnen und an eine Verschwörung zu glauben. Am besten in einer Gruppe Gleichgesinnter. Das ändert zwar rein gar nichts am Problem, fühlt sich für viele aber besser an. Diese gefühlte Wahrheit ist die eigentliche Gefahr. Sie wirkt wie ein Gift. Toleranz ist dagegen wirkungslos, nur Widerspruch kann helfen. Denn dieses Gift verzerrt die Wahrnehmung. Populismus als politischer Arm Es führt dazu, dass Corona-Leugner*innen die Bedrohung in mächtigen und bösartigen “Verschwörer*innen” sehen und nicht in der Pandemie. Menschen wie Bill Gates sind für diese Rolle prädestiniert: der Windows-Erfinder und Multi-Milliardär, der Teile seines Vermögens seit vielen Jahren in Forschungsprojekte investiert. Für viele Verschwörungsideolog*innen klingt all das undurchsichtig genug, um Gates boshafte Machenschaften zu unterstellen. Internet und soziale Netzwerke sind ein Katalysator für dieses Gedankengut. Hier treffen sich Gleichgesinnte, können sich vernetzen und bekommen dadurch noch mehr das Gefühl, dass ihre Meinung die einzig wahre ist. Der politische Arm der Verschwörungsmythen ist der Populismus. Allein die Grundidee von Populismus spricht ja von “dem Volk”, das einen gemeinsamen “Volkswillen” habe, dem die “korrupten Eliten” entgegenwirken würden. Bei beiden Gruppen ist nicht ganz klar, wer gemeint ist. Von außen betrachtet, erscheint diese Unklarheit häufig verwirrend. Doch sie hat System. Denn genau diese Eigenschaft ist es, die viele Verschwörungsideologien anschlussfähig macht - für bereits bestehende Ideologien oder sogar für rechtsextremistische Gedankenwelten. Ich bleibe dabei: Zweifeln ist gut. Es gibt diejenigen, die zweifeln, um Wahrheit zu finden. Andere zweifeln, um Wahrheit für sich zu beanspruchen. Wer von Anfang an behauptet, dass alle lügen, die etwas anderes sagen, als das, was man selbst aktuell für richtig hält, kommt aus diesem Verschwörungskonstrukt irgendwann nicht mehr raus. Und wer krude Aussagen ignoriert oder weglächelt, macht sie salonfähig. Deshalb liegt die Antwort im Streit. Leidenschaftlich und fair. Emotional und faktenorientiert. Nur wer die direkte Diskussion sucht, kann etwas verändern. Wir müssen wieder lernen Argumente auszutauschen, ohne sie persönlich zu nehmen. Lernen uns zuzuhören, ohne einander anzuschreien. Meine Utopie ist eine demokratische Diskussionskultur, die die Gesellschaft wieder näher zusammenführt. Sie beginnt im Dialog mit unserem Umfeld.« wwlw-kommentar-1  
 

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